Leben in Würde: Organisationen fordern Entlastung bei Wohnen und Energie und eine menschenrechtskonforme Sozialhilfe
(06.09.2024) Der Staat hat die Verpflichtung, allen Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Deshalb braucht es eine Entlastung bei Wohn- und Energiekosten. Außerdem muss die Sozialhilfe neu geregelt werden: Neben dem Abbau von Hürden braucht es Richtsätze, die den Lebensrealitäten der Menschen entsprechen, und zwar in ganz Österreich.
Wenn es um die Fragen geht, die die Bevölkerung beschäftigen, so gehört leistbares Wohnen immer zu den Top Fünf Themen. Das spiegelt sich in der öffentlichen Debatte aber nicht wider, wie die Armutskonferenz, die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sowie die Plattform Sichtbar Werden im Zuge des gemeinsamen Aktionstags „Zelte gegen Armut und Wohnungsnot“ in Wien kritisieren. Entsprechend fordern die Organisationen die wahlwerbenden Parteien rund drei Wochen vor der Nationalratswahl auf, konkrete Vorschläge für Maßnahmen für leistbares Wohnen und ein Leben in Würde vorzulegen. Dabei müsse Armut endlich als Menschenrechtsthema behandelt und das Recht auf soziale Sicherheit für alle Menschen in Österreich sichergestellt werden.
Als wesentlichen Hebel in der Armutsbekämpfung mahnen die Organisationen ein, Armutsbetroffene bei Wohn- und Energiekosten zu entlasten, außerdem brauche es dringend eine menschenrechtskonforme Sozialhilferegelung für ganz Österreich. Die Vertreter*innen von „Sichtbar Werden“, einer Plattform von Menschen mit Armutserfahrung, fordern von der künftigen Regierung außerdem, dass von Armut Betroffene von der Politik endlich gehört werden – und ihre Erfahrungen in Gesetze und politische Vorhaben einfließen.
Armutskonferenz fordert Investitionen in den sozialen Wohnbau
Martin Schenk, Sozialexperte und Sprecher der Armutskonferenz, sieht vor allem in den steigenden Wohnkosten einen Treiber der Armut: "Nach wie vor ist die Lage am Wohnungsmarkt äußerst schwierig und die Mieten sind vor allem für Junge, Familien, Alleinerzieherinnen und Menschen mit kleinen Einkommen unerschwinglich. Doch Wohnen muss leistbar sein. Nur so werden einkommensarme Haushalte effektiv entlastet."
Konkret erwartet er „mehr günstigen leistbaren Wohnraum und mehr Investitionen in den öffentlichen und gemeinnützigen Wohnbau. Besonders im Westen Österreichs gibt es noch großen Aufholbedarf.“ Schenk skizziert die Gründung einer Wohnbau-Investitionsbank, mit der Ressourcen für neues günstigeres Wohnen geschaffen werden könnten. Sie würde Gelder bei der Europäischen Investitionsbank abholen und in Form von günstigen Darlehen an Wohnbauträger weiterleiten. Der Bund unterstütze mit einer Haftung. Gleichzeitig müsse die Flächenwidmung mithelfen, günstigen Boden für sozialen und gemeinnützigen Wohnbau zur Verfügung zu stellen.
Energie-Grundsicherung für spürbare Entlastung der unteren Einkommen
Ein weiterer Hebel in der Entlastung der Haushalte wäre eine so genannte Energie-Grundsicherung, die den Grundbedarf an Energie für alle Menschen sicherstellt. „Energiearmut ist keine bloß individuelle Last, sondern ein politisches Versagen.“ Das veranschaulichen die aktuellen Zahlen: „Wäre Österreich ein Dorf mit 100 Einwohnern, könnten es sich vier Personen nicht leisten, ihr zu Hause angemessen warm zu halten, elf Menschen lebten in feuchten, schimmligen Wohnungen. Wohnen heißt mehr als vier Wände um sich herum zu haben. Wohnen bedeutet Daheim sein, warm haben, genießen, gesunden. Wohnen geht unter die Haut. Kälte und Energiearmut auch: Schimmel fördert Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen, Allergien und Atemwegserkrankungen. Ständiges Frieren löst psychischen Stress aus, mindert die Leistungsfähigkeit und macht müde.“ Die von Schenk propagierte Energie-Grundsicherung würde besonders untere Einkommen in Relation zum Haushaltseinkommen stark entlasten und könnte unbürokratisch in Anspruch genommen werden. Europaweit lägen mehrere Modelle am Tisch, jetzt ginge es darum, bestehende Ideen weiterzuentwickeln und ihre Umsetzung zu prüfen.
Wohnen ist ein Menschenrecht, Armut eine Menschenrechtsverletzung
Amnesty International mahnt in der aktuellen Diskussion erneut ein, den Staat nicht aus seiner Verantwortung zu lassen: "Wohnen ist ein Menschenrecht, Armut eine Menschenrechtsverletzung. Was so banal klingt, hat weitreichende Konsequenzen. Denn es zeigt, dass der Staat in der Verantwortung ist, Wohnungslosigkeit und Armut zu bekämpfen, dazu hat er sich verpflichtet."
Leistungen wie Mindestsicherung bzw. Sozialhilfe oder diverse Wohnförderungen seien keine Almosen, sondern Ansprüche, auf die die Menschen in Österreich ein Recht hätten. „Allein sich diesen Aspekt bewusst zu machen, führt oft zu einem anderen Zugang – sowohl bei den Betroffenen als auch bei den Verantwortlichen, die die Regelung der Sozialleistungen beschließen.“ Amnesty fordert schon länger eine menschenrechtskonforme Neuregelung der Sozialhilfe, bei der die Menschen nicht länger zu Bittsteller*innen gemacht und die bestehenden Hürden im Zugang zur Sozialhilfe abgebaut werden.
Sozialhilfe deckt nicht die Lebensrealitäten ab
Im Zusammenhang mit dem Thema Wohnen braucht es laut Amnesty ebenfalls ein Umdenken: Die derzeitige Regelung der Sozialhilfe sieht vor, dass Wohnförderungen auf die Sozialhilfe angerechnet werden. Sprich Empfänger*innen einer Wohnförderung erhalten weniger Sozialhilfe. Manche Bundesländer haben in ihren Ausführungsgesetzen für die Deckung von Lebenserhaltungs- bzw. Wohnkosten auch eine prozentuelle Aufteilung vorgesehen, in Niederösterreich und Salzburg sind es etwa 60 zu 40. Mit anderen Worten heißt das: 60 Prozent der Sozialhilfe sollen für die Ausgaben des täglichen Lebens, 40 Prozent für die Begleichung der Wohnkosten aufgewendet werden. „Das entspricht aber absolut nicht den Lebensrealitäten, in denen die Menschen stecken“, so Hashemi. Aufgrund des Mangels an leistbarem Wohnraum übersteigen die tatsächlichen Wohnkosten oft den Betrag, der dafür vorgesehen wäre – das sind aktuell 462 Euro bei einem Einpersonenhaushalt. Wenn also eine allein lebende Person es nicht schafft, mit diesen 462 Euro ihre Miete zu bezahlen, muss sie auch jenen Teil der Sozialhilfe, der für die Lebensunterhaltskosten vorgesehen ist, fürs Wohnen aufbringen – und damit bleibt ihr weniger für die sonstigen Ausgaben.
„Das perfide an der Regelung ist: Den Menschen, die tatsächlich geringere Wohnkosten haben als durch die Sozialhilfe festgesetzt, wird die Sozialhilfe um diesen Betrag gekürzt. Das heißt also: Der Gesetzgeber legt durch die Höchstsätze der Sozialhilfe und die darin vorgesehene Aufteilung fest, wie viel für Wohnen bezahlt werden darf. Schafft man den unwahrscheinlichen Fall und kann günstiger wohnen, wird einem der Rest der Hilfe gestrichen. Ist es so wie in den meisten Fällen, dass der gesetzlich vorgesehene Betrag nicht genügt, dann muss man auf den Rest des ausgezahlten Geldes zurückgreifen und es bleibt einem weniger für Essen, Heizen etc.“, so die Amnesty-Geschäftsführerin. Das wiederum führt dazu, dass die Menschen – vor allem gegen Ende des Monats – oft in kalten Wohnungen sitzen, weil sie das Geld statt für die Energierechnung in Essen, Schulsachen für die Kinder etc. stecken müssen.
Soziale Menschenrechte müssen in die Verfassung
Im Vorfeld der Nationalratswahl fordert Amnesty International die Parteien daher auf, das Recht auf soziale Sicherheit, zu dem die Sozialhilfe zählt, zu stärken und die Sozialhilfe wieder zu dem zu machen, was sie eigentlich sein sollte: Ein soziales Auffangnetz für Menschen, die nicht aus eigenen Mitteln ihre Lebenserhaltungs- und Wohnkosten bestreiten können; und nicht Almosen, die fernab jeder Lebensrealität die Menschen beschämt und ihnen kein Leben in Würde ermöglicht.
"Wir brauchen eine Regierung, die es als ihre Aufgabe sieht, Armut in Österreich nachhaltig zu beenden. Es ist an der Zeit, dass eine nächste Bundesregierung endlich anerkennt, dass es sich bei den Themen leistbares Wohnen und soziale Absicherung um Menschenrechte handelt, die zentral für ein menschenwürdiges Leben sind.", so Shoura Hashemi, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich. Umso wichtiger ist es, sind sich Amnesty International und die Armutskonferenz einig, dass auch soziale Menschenrechte langfristig im österreichischen Grundrechtskatalog abgesichert werden.