Mindestsicherung: Sozialpolitik ohne Hausverstand

Mietpreiserhebung der Vorarlberger Armutskonferenz verdeutlicht Probleme auch für Erwerbstätige im unteren Einkommensbereich

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(04.04.2017) Die Erkenntnis, dass die soziale Lage der unteren 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung angespannt ist und nicht mit sozialpolitischen Maßnahmen allein zu verbessern ist, scheint auch in Vorarlberg langsam um sich zu greifen: Die Landesregierung erhöht die Bauleistung für gemeinnützigen Wohnbau und will nun 3.000 neue Wohnungen bis 2020 schaffen. Der sozialpolitische Ausschuss des Landtages beschließt, die Bundesregierung bei der raschen Einführung eines Mindestlohns zu unterstützen.

Die Armutskonferenz begrüßt diese Entwicklung und sieht darin Schritte in eine Richtung, die sie schon seit geraumer Zeit empfiehlt. „Leider mangelt es bei der Umsetzung dieser Erkenntnis in praktische Politik bisweilen noch an Hausverstand und Realitätssinn“, kritisiert der Sprecher der Vorarlberger Armutskonferenz Michael Diettrich: „Man kann doch nicht die Mietzuschüsse in der Mindestsicherung im Jahr 2017 kürzen, wenn die Wohnungen, die man sich mit diesen Zuschüssen leisten kann, erst im Jahr 2020 zur Verfügung stehen.“ Das gleiche gilt für den grundsätzlich begrüßenswerten höheren Wiedereinsteigerbonus, der den Anreiz für MindestsicherungsbezieherInnen zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit erhöhen soll. Diettrich: „Solange es nicht genügend Arbeitsplätze mit geringen Qualifikationsanforderungen gibt, soll man ein Mosaiksteinchen nicht zu einem sozialpolitischen Meilenstein aufbauschen.“

Für geradezu absurd hält die Vorarlberger Armutskonferenz die Begründung der ÖVP für die Kürzung des Wohnbedarfs in der Mindestsicherung als Akt der Gerechtigkeit gegenüber Erwerbstätigen, die nur wenig mehr Einkommen als MindestsicherungsbezieherInnen haben. „Was verbessert eine Kürzung der Mindestsicherung an der Situation eines Erwerbstätigen, der mit seinem Einkommen kaum über die Runden kommt? Rein gar nichts und seine Leistung lohnt sich auch keinen Deut mehr“, stellt Diettrich fest. Die Vorarlberger Armutskonferenz kenne bisher weder von der ÖVP, noch von der FPÖ, die sich beide in den letzten zwei Jahren vehement für Kürzungen der Mindestsicherung stark gemacht haben, einen einzigen Vorschlag, der die Situation von Erwerbstätigen mit niedrigem Einkommen verbessern könnte. „Vom politischen Gerede über Gerechtigkeit kann man nicht leben – das muss sich schon auch im Geldbörserl niederschlagen. Die ganze überflüssige Debatte über die Mindestsicherung lenkt nur davon ab, dass man für Erwerbstätige im unteren Einkommensbereich so gut wie nichts tut. An diesem Befund hat auch die Steuerreform nichts Grundsätzliches geändert“, ergänzt Diettrich.

Mietpreise derzeit nicht nur für Mindestsicherung ein Problem

Zur Illustration der Realität auf dem Vorarlberger Wohnungsmarkt präsentiert die Armutskonferenz eine Erhebung von Mietangeboten im Bezirk Bregenz über den Zeitraum Juni 2016 bis Jänner 2017. Da derzeit auf Grund der langen Wartelisten im gemeinnützigen Wohnbau kaum Wohnungen zu bekommen sind, wurden nur Wohnungen auf dem freien Wohnungsmarkt erfasst, die in verschiedenen Medien inseriert waren. „Das ist kein Mietpreisspiegel und auch nicht repräsentativ. Dennoch vermittelt die Erhebung einen durchaus realistischen Eindruck davon, was diejenigen erwartet, die derzeit eine Wohnung suchen“, erläutert Diettrich.

Ausgewertet wurden 132 Wohnungsangebote, die Angaben zu Zimmerzahl und Miete enthielten. Um die Nutzbarkeit der Wohnungen für einzelne Haushaltstypen/-größen abzubilden, wurde nicht auf die Größe in Quadratmetern abgehoben, sondern auf die Zahl der Zimmer. Das Ergebnis:

  • Wohnungen mit 1 bis 1,5 Zimmern: Miete pro qm inkl. Betriebskosten zwischen € 11,06 und € 24,00 (Median: € 16,03), Gesamtmiete zwischen € 320 und € 659 (Median: € 539)
  • 2-Zimmerwohnungen: Miete pro qm zwischen € 9,23 und 17,27 (Median: € 12,10),
  • Gesamtmiete zwischen € 470 und 964 (Median: € 720)
  • 3-Zimmerwohnungen: Miete pro qm zwischen € 8,95 und € 15,75 (Median: € 11,89),
  • Gesamtmiete zwischen € 550 und € 1.144 (Median: € 920)
  • Wohnungen mit 4 Zimmern und mehr: Miete pro qm zwischen € 5,00 und € 12,28 (Median:
  • € 9,31), Gesamtmiete zwischen € 600 und € 1.500 (Median: € 1.130).

Ordnet man diesen Wohnungsgrößen mögliche Haushaltstypen zu und vergleicht die Marktmieten mit den Miethöchstsätzen der Mindestsicherung (BMS), ergibt sich folgendes Bild:

  • 6 (35%) der 17 erfassten 1 bis 1,5 Zimmerwohnungen können mit den Mietsätzen der BMS für Alleinstehende (€ 503) bezahlt werden.
  • 8 (21%) der 38 erfassten 2-Zimmerwohnungen können mit den Mietsätzen der BMS für Paare (max. € 595) bezahlt werden.
  • Ganze 4 (9%) der 46 erfassten 3-Zimmerwohnungen können mit den Mietsätzen der BMS für 3-Personenhaushalte (max. € 682) bzw. 5 (12%) mit den Sätzen für 4 Personenhaushalte (€ 712) bezahlt werden
  • Lediglich eine einzige von 14 Wohnungen (7%) mit 4 und mehr Zimmern lässt sich mit den Mietsätzen für 5 Personenhaushalte (max. € 742) bzw. größere Haushalte (max. € 772) bezahlen.

Solche Mieten sind nicht nur für BezieherInnen der Mindestsicherung unbezahlbar. Selbst Haushalte mit mittleren Erwerbseinkommen geraten da in Schwierigkeiten. „Deshalb kann man das, was da am kommenden Mittwoch als Mindestsicherung im Landtag beschlossen werden soll, nur als politische Realitätsverweigerung bezeichnen. Statt Kürzungen in der Mindestsicherung brauchen wir eine kräftige Ausweitung der Wohnbeihilfe, die für Erwerbstätige mit niedrigen Einkommen gedacht ist. Wovon sollen all diese Menschen eigentlich bis 2020 leben, wenn dann vielleicht genügend leistbarer Wohnraum zur Verfügung steht?“, fragt der Sprecher Vorarlberger Armutskonferenz.

Kürzungen von Sozialleistungen wirtschaftlich kontraproduktiv

Die Vorarlberger Armutskonferenz stellt die Kürzungsabsichten der Landesregierung auch aus wirtschaftlichen Gründen in Frage. Alle Konjunkturberichte für das letzte Jahr stimmen darin überein, dass das sehr überschaubare österreichische Wirtschaftswachstum von 1,5% überwiegend von der Konsumnachfrage getragen war, die nach Jahren der Stagnation wieder leicht zugenommen hat. Und alle Prognosen für die nächsten Jahre gehen davon aus, dass diese Nachfrage wieder abflachen wird, dennoch aber eine wichtige Konjunkturstütze bleibt. Besonders interessant im Zusammenhang mit den Sparmaßnahmen der Landesregierung bei der Mindestsicherung, die ja vor allem mit den Kostensteigerungen durch Flüchtlinge begründet werden: Im vergangenen Jahr war der Wachstumsbeitrag der Ausgaben für Flüchtlingen (u.a. Transferleistungen) nach Ansicht der Konjunkturforschungsinstitute gleich hoch wie der der Steuerreform. Ohne Flüchtlinge hätte das Wachstum nicht 1,5%, sondern nur 1,3% betragen. „Die Landesregierung arbeitet deshalb mit ihren Sparmaßnahmen bei Sozialleistungen in wirtschaftlich unvernünftiger Weise daran, das bisschen Wirtschaftswachstum, das wir mit viel Mühe erreicht haben, wieder abzuwürgen“, resümiert der Sprecher der Vorarlberger Armutskonferenz.