Erhebung Armutsbetroffene und die Corona-Krise 2.0: Psychische Probleme, Existenzsicherung bei Arbeitslosigkeit, beengtes Wohnen und Schule.

„Von unten gesehen“: Neue Erhebung zur sozialen Lage aus Sicht von Betroffenen

(30.11.2021) Es zeigt sich „wie wichtig ein existenzsicherndes und gutes Arbeitslosengeld ist, wie massiv sich beengtes Wohnen auf Bildung und Gesundheit der Kinder auswirkt - und wie stark Depressionen und Einsamkeit mit Existenzangst verbunden sind“, fasst Sozialexperte Martin Schenk von der Armutskonferenz die Ergebnisse der zweiten Erhebung zur sozialen Lage aus Sicht von Armutsbetroffenen zusammen.

„Die Welt dreht sich halt weiter und ich komme irgendwie nicht nach.“ Das sagt eine Jugendliche, die unter der Armutsgrenze lebt. Eine Studie der Armutskonferenz im Auftrag des Sozialministeriums hat jetzt ihre Stimme und die Stimmen vieler anderer hörbar gemacht. Armutsbetroffene und Armutsgefährdete, Leiharbeiter und Ich-AGs, prekäre Künstler, Leute mit Sozialhilfe und Notstandshilfe, Alleinerziehende und sozial benachteiligte Jugendliche sprachen über ihr Leben in der Corona Krise. „Die Befragten setzen diesmal ihre Prioritäten deutlich anders als in der ersten Erhebung im Sommer 2020. Die körperliche Gesundheit, die sozialen Kontakte und vor allem das psychische Wohlbefinden haben an Bedeutung gewonnen. Und auch das Wohnen in zu großer Enge ist nun Thema“, erläutert Studienautorin Evelyn Dawid die Ergebnisse. Die Erhebung bringt Einblicke, wie sich die soziale Lage Ende Mai 2021 „von unten gesehen“ anfühlte und wie sie sich seit Sommer 2020 verändert hatte.

Psychische Probleme: Depression, Gleichgültigkeit, Einsamkeit, Existenzangst

Dominantes Thema waren diesmal die psychischen Beeinträchtigungen, die sich aus einer Vielzahl von Gründen eingestellt hatten: zB weil den Menschen die Arbeit und die Kollegen*innen abgingen; weil man Freunde und Freundinnen, Familie und Bekannte nicht oder nur auf Distanz treffen konnte; weil sich die ökonomische Existenzgrundlage in Luft aufzulösen schien; weil man sich vor einer Covid-Erkrankung fürchtete; weil das Geld hinten und vorne nicht reichte; weil die Öffnungen mehrmals (sehr kurzfristig) verschoben wurden, was Enttäuschungen brachte und die Betroffenen in eine belastende Warteposition zwang; weil Pläne zusammenbrachen und die Zukunft immer unsicherer wurde; weil die Existenzangst mehr und mehr nagte.

„Der 15 Jährige, der sein Sparschwein opfern wollte, wie er gehört hat, es geht schlecht.“
Die Jugendlichen hatten unter den finanziellen Problemen ihrer Eltern psychisch mitzuleiden und kämpften mit dem Gefühl, an vielen Fronten eingeschränkt zu sein.

Zur Einsamkeit, die bereits in der ersten Erhebung des Vorjahres 2020 ein wichtiges Thema gewesen war, gesellte sich eine Art Gleichgültigkeit: Viele verloren die Tagesstruktur, schlitterten in eine Depression, machten den Tag zur Nacht und umgekehrt. Vor allem die Jugendlichen verschliefen den Tag -auch während am Bildschirm das Homeschooling lief- oder waren ständig, auch spät abends, im Freien unterwegs. Einiges blieb unerledigt: Schulaufgaben ebenso wie Hausarbeit.
„Zwei Stunden war ich da und dann bin ich eingeschlafen. Stehe um 15 Uhr auf und dann ich denke so, fuck Oida, jetzt habe ich das alles verpasst. Egal. Und ja. Meine Noten haben sich auch arg verschlechtert. Ja. So, ich würde lieber in die Schule gehen, anstatt das online immer zu machen“, sagt ein Jugendlicher.

Existenzsicherndes Arbeitslosengeld wichtig / positive Wirkung des Zuverdiensts

Arbeitslose sind stark betroffen von psychischem Druck und Existenzangst: am wenigsten aber jene Arbeitslosen, die vor der Corona-Krise einen gut bezahlten Job gehabt hatten; im Gegensatz zu Arbeitslosen mit prekärer Arbeit und geringem Arbeitslosengeld. „Wir fanden zwei Gruppen“, so die Sozialwissenschafterin Evelyn Dawid. „Eine hat vor der Krise in schlecht bezahlten Jobs gearbeitet, hat keine Ersparnisse und bezieht sehr niedriges Arbeitslosengeld. Diese Menschen sind tatsächlich durch die Corona-Krise und ihren Jobverlust in Armut geraten. Die zweite Gruppe hatte einen gut bezahlten Job, im Idealfall finanzielle Rücklagen und einen ausreichend hohen AMS-Bezug. Ein existenzsicherndes und höheres Arbeitslosengeld ist wichtig“, so Schenk. „Bei prekär Beschäftigten und „working poor“ zeigte sich ein Muster besonders klar: die finanziellen Probleme wirken auf andere in der Familie weiter und bringen diese in einer Art Kettenreaktion ebenfalls in existentielle Schwierigkeiten.“ Schenk erinnert weiters an die „positive armutsbekämpfende Wirkung der Zuverdienstmöglichkeit“ aus der ersten Erhebung 2020.

Beengtes Wohnen

Zu enge Wohnverhältnisse wurden mehrfach angesprochen – und zwar im Zusammenhang mit Homeschooling. „Bei mir war das sehr schwierig. Wir sind fünf Personen. Wir sollten immer in der Früh-, da haben wir Online-Unterricht gehabt. Manchmal haben wir überhaupt kein Internet gehabt und wir haben viele, viele Probleme gehabt. Zum Beispiel sollte ich vier Fragen stellen. Dann hat meine Schwester zu mir gesagt: Bitte leise. Und ich habe zu meiner Schwester gesagt: Sei du leise. Das war sehr schwierig für mich. Und die Wohnung war wirklich sehr klein für uns. Also jeder sollte ein Zimmer haben. Aber wir haben leider keine. Deswegen für uns war es ziemlich schwierig. Deswegen habe ich Fünfer bekommen“, erzählt eine Jugendliche. Ihre fünfköpfige Familie lebt in einer so kleinen Wohnung, dass mehrere Kinder in einem Zimmer gleichzeitig ihrem jeweiligen Online-Unterricht folgen und auch noch mitmachen sollten. Das Mädchen hat dann ihre Ausbildung abgebrochen, was sie "traurig" gemacht hat. Bildungsabbrüche während dieser Zeit schildern auch andere Jugendliche und Eltern.

Soziales Fieberthermometer

„Ich habe das Glück, dass ich drei riesige Biotonnen in der Nähe von meiner Wohnung habe, und ich das aus dem Mist hole, das Essen, teilweise nicht alles. Ja, meistens geht es gut, aber manchmal geht es nicht gut. Ich habe viel mehr Erkrankungen, also Brechdurchfall oder so etwas.“ Das erzählt eine ältere Frau.
Manche Entwicklungen, die die Vorgängerstudie im Sommer 2020 aufgedeckt hat, bevor sie noch ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten waren bzw. von der Statistik erfasst werden konnten, werden inzwischen breit diskutiert. „Armutsbetroffene sind eine Art soziales Fieberthermometer, an dem sich negative, gesellschaftliche Entwicklungen, die später viele treffen, Monate vorab zeigen“, betont Martin Schenk. Was ausschließlich Armutsbetroffene aufgrund der engen Haushaltsbudgets spürten, war die geringfügige, aber stetige Preissteigerung bei Lebensmitteln, aber auch bei Wohnen und Energie. „Armutsbetroffene weisen hier ein geschärftes Sensorium auf, weil sie aufgrund ihrer ausgesetzten Position in der Gesellschaft schon kleine Veränderungen am eigenen Leib zu spüren bekommen“, so Evelyn Dawid. „Die Preissteigerungen zum Beispiel, die bei der letzten Erhebung nur Menschen spürten, die wirklich jeden Cent umdrehen müssen, sind inzwischen statistisch nachgewiesen.“

SERVICE

Studie „Armutsbetroffene und die Corona-Krise 2.0. Eine zweite Erhebung zur sozialen Lage aus der Sicht von Betroffenen“, Die Armutskonferenz, 2021.

Berücksichtigt wurden Menschen, die schon lange in Armut leben, und Gruppen, die durch die Corona-Krise in Armut geraten sein könnten: Ein-Personen-Unternehmer*innen, Künstler*innen und Arbeitslose, die ihren Job während der Pandemie verloren haben. Ein Schwerpunkt galt diesmal Jugendlichen aus ökonomisch benachteiligten Haushalten. Die Daten wurden in moderierten Gruppendiskussionen gewonnen. Die Erhebung fand im Mai und Juni diesen Jahres statt.


Die qualitative Studie "Armutsbetroffene und die Corona-Krise 2.0" wurde durch das Sozialministerium gefördert