Zweidrittel-Demokratie: Armutskonferenz warnt vor tiefer sozialer Kluft in der Demokratie

Mehr „Stimmen gegen Armut“ notwendig. Das ökonomisch schwächste Drittel ist im Parlament nicht vertreten.

(04.03.2020) „Österreich ist auf dem Weg in die Zweidrittel-Demokratie“, warnen SozialexpertInnen im Vorfeld der - unter dem Titel „Stimmen gegen Armut“ stattfindenden - österreichweiten Armutskonferenz nächste Woche in Salzburg. „Ökonomische Ungleichheit drückt auf das Vertrauen in die Demokratie und behindert politische Partizipation“, stellt Sozialforscherin Martina Zandonella vom SORA Institut fest. „Mit meiner Stimme kann ich bei Wahlen die Zukunft Österreichs mitbestimmen – dem können 50% des stärksten ökonomischen Drittels zustimmen aber nur 28% des schwächsten“, zitiert Zandonella ihre aktuellen Erhebungen. Und: „Nur die Hälfte des ökonomisch ärmsten Drittels geht wählen, aber 80% des reichsten Drittels.“

Gesetzliche Maßnahmen übersehen unteres Drittel oder schaden ihm

Ingsgesamt gilt: „Je mehr die soziale Schere in einem Land auseinandergeht, desto höher ist das Misstrauen und die Unzufriedenheit in die Demokratie“ ergänzt Sozialexperte Martin Schenk von der Armutskonferenz. „Soziale Ungleichheit beschädigt das Ansehen der Demokratie und behindert Mitbestimmung.“

Die Mehrzahl der Menschen im ökonomisch schwächsten Drittel hat den Eindruck, ihre Stimme zählt nicht. „Kein Wunder. Das ökonomisch schwächste Drittel ist im Parlament nicht vertreten“, analysiert Schenk. „Und die gesetzlichen Maßnahmen tendieren dazu, das ärmste Drittel zu übersehen oder ihm zu schaden“: Die Abschaffung der Mindestsicherung brachte Kürzungen und giftige Regelungen für Menschen mit Behinderungen, pflegende Angehörige, Kinder, Familien und Wohnungslose. Seit Jahren fehlen zehntausende leistbare Therapieplätze für Kinder und chronisch Kranke. Arbeitsmarktpolitik für ältere Langzeitarbeitslose pendelt zwischen unsicherer Aktion 20.000 oder angedrohter Abschaffung der Notstandshilfe. Das österreichische Schulsystem weist eine im internationalen Vergleich hohe soziale Vererbung auf. Leistbares Wohnen in Städten ist ein wachsendes Problem für kleinere Einkommen. Die ärmsten 166.000 Kinder haben vom Familienbonus nichts. Prekarität und Working Poor gehören weiter zum großen verschwiegenen Thema hinter der Mindestsicherung: in 57% der Familien mit Kindern in der Mindestsicherung hat zumindest ein Familienmitglied eine bezahlte Beschäftigung.

Zuhören und ernst nehmen statt drüberfahren und ignorieren

Henriette Gschwendtner, engagiert in der Plattform Armutsbetroffener „Sichtbar Werden“ und Interessensvertreterin bei Exit Sozial, sagt, was zur Zeit brennt: „Es gibt viel zu wenig Therapieplätze für Menschen mit chronischen Erkrankungen. Alleinerziehende Mütter können die immer höher steigenden Mieten nicht mehr zahlen. Oder wenn jemand in einer teilbetreuten WG wohnt, geht sich das mit der gekürzten Mindestsicherung und dem Wohnkostenbeitrag nicht mehr aus. Würde mich nicht wundern, wenn da viele in die Obdachlosigkeit abrutschen“. Was Gschwendtner sich von einer Demokratie erwartet: „Politiker müssen uns mehr zuhören und unseren Alltag ernst nehmen. Nicht drüberfahren und uns ignorieren.“

Soziale und ökonomische Ungleichheit schließt aus

Mit dem einer Person zur Verfügung stehenden soziökonomischen Ressourcen steigt die Wahrscheinlichkeit politischer Partizipation. Der Anteil der Personen, die sich an Demokratie und Politik über Wahlen und hinaus beteiligen, ist beim ökonomisch schwächsten Drittel nur 55%, beim stärksten aber rund 80%. Soziale Ungleichheit schließt aus.

„Für eine aktive Beteiligung am politischen Geschehen sind Ressourcen notwendig“ analysiert Michaela Moser, Professorin auf der FH St.Pölten und Mitarbeiterin der Armutskonferenz: „Neben verfügbarer Zeit, geht es dabei um Wissen und Information, also um Bildung, vor allem aber auch um finanzielle Ressourcen. Personen, die ihre materielle Absicherung für die Zukunft als schlecht einschätzen, partizipieren sehr viel seltener als solche, die sich als gut materiell abgesichert empfinden.“

Arbeitslosenanwaltschaft, Client councils, Sozialverträglichkeitsprüfung, Health Impact Assessment

Bei Verwaltungsreform und Demokratiepaket dürfen diejenigen nicht vergessen werden, die eine gute Verwaltung und gleichen Zugang zum Recht – egal ob arm oder reich – am meisten brauchen. Moser schlägt hier „Modelle von Arbeitslosenanwaltschaften“ vor, die bereits in Oberösterreich und Wien ausgearbeitet wurden. Oder „client councils auf den Ämtern, wie wir sie aus den Niederlanden kennen“. Entscheidend ist auch, dass Beteiligungsmöglichkeiten institutionalisiert werden, zB. regelmäßige Einladung von Menschen mit Armutserfahrungen ins Parlament. Für eine bessere Bürgerbeteiligung müssen mit neuen Partizipationsprojekten besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen eingebunden werden. Sie können Einblicke und Lösungen erbringen, an die vorher nicht gedacht wurde. Eine „Sozialverträglichkeitsprüfung“ gesetzlicher Maßnahmen sollte genauso bedacht werden wie Modelle eines „Health Impact Assessment“ wie wir es aus Neuseeland kennen.

Parlamentsausschuss „Armutsbekämpfung“ einsetzen / Maßnahmen im Budget abbilden

Die Armutskonferenz fordert das Parlament auf, den im Regierungsprogramm vermerkten „Unterausschuss Armutsbekämpfung“ einzusetzen. „Dort können die Stimmen gegen Armut hör- und sichtbar werden“, so Schenk und Gschwendtner unisono. „Dort ist der richtige Platz für die Ergebnisse der Armutskonferenz.“.
Weiters erwartet sich die Armutskonferenz von Sozialminister Anschober eine Budgetierung der im Regierungsprogramm vermerkten Punkte, die Armut potentiell bekämpfen. Im Budget muss die Armutsbekämpfung abgebildet sein. „Schöne Wort machen nicht satt und helfen nicht gegen die drohende Zweidrittel-Demokratie.“ Das gilt insbesondere für die Punkte : Sensibilisierungsstrategie im Umgang mit Minderheiten und Menschen am Rand / Frühe Hilfen österreichweit ausbauen und finanzieren / Therapien voll übernehmen / Ferienbetreuung / Unterhalt mit Familienbeihilfe verlängern / Kinder und Jugendhilfe länger als bis zum 18. Lebensjahr / Niederschwellige Familienberatungsangebote ausbauen / Chancenindex an Schulen / Soziale Grundrechte stärken und in die Verfassung.

"Armutsbetroffene werden oft als "sozial schwach" bezeichnet. Das ist eine Beleidigung. Sozial schwach sind diejenigen, die den Armen aus der Armut helfen könnten, es aber nicht tun“, so Schenk abschließend.


Weitere Informationen:

SORA: Ungleichheit und Demokratie

Armutskonferenz: Stimmen gegen die "Zweidrittel-Demokratie"

Armutskonferenz: Stärkung von Partizipation

Programm der 12. Österreichischen Armutskonferenz 9. - 11. März 2020 St. Virgil / Salzburg