Mindestsicherung darf nicht dem Gleichheitsgrundsatz widersprechen

Die Verfassungsrichter haben das Niederösterreichische Mindestsicherungsgesetz, das Vorbild für eine bundesweite Lösung sein soll, zum Teil aufgehoben. Die Regierung kann das nicht ignorieren.

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat mehrere Bestimmungen des Niederösterreichischen Mindestsicherungsgesetzes als verfassungswidrig aufgehoben. Für mit der Materie Vertraute war das nicht überraschend. Umso erstaunlicher waren die Reaktionen der Politik: In Ländern mit ähnlichen Regelungen fühlt man sich gar nicht betroffen, während auf Bundesebene das Festhalten am Regierungsprogramm betont wird, obwohl sich dort exakt jene Vorschläge finden, die als unzulässig erklärt wurden.

Die Argumentation des VfGH ist eindeutig. Unterschiede bei Voraussetzungen oder Höhe der Leistungen bedürfen einer sachlichen Rechtfertigung, um dem Gleichheitssatz zu entsprechen. Bei einer Differenzierung nach der Dauer des Aufenthalts in Österreich ist das ebenso wenig der Fall wie bei der Ausblendung des konkreten Bedarfes in einer Haushaltsgemeinschaft durch eine Deckelung der Leistungen. Und in beiden Punkten ist bereits nach nationalem Verfassungsrecht (also ohne Rückgriff auf Unions- oder Völkerrecht) kein Unterschied zwischen Inländern und Asylberechtigten zulässig.

Eine geringere Mindestsicherung für Personen, die sich in den vergangenen sechs Jahren weniger als fünf Jahre im Inland aufgehalten haben, ist auch im Burgenland vorgesehen. Die dortige Regelung könnte so ausgelegt werden, dass sie für Staatsangehörige nicht gilt, im Hinblick auf anerkannte Flüchtlinge ist aber jedenfalls von einer Verfassungswidrigkeit auszugehen. Genau auf diese Personen zielt freilich die „Wartezeit", mit der man offenbar die EU-rechtlich gebotene Gleichbehandlung von Asylberechtigten und Inländern unterlaufen wollte. Ein solcher Umweg wurde in Oberösterreich gleich vermieden, indem für diese Personen von vornherein deutlich geringere Leistungen vorgesehen sind. Eine Überprüfung der entsprechenden Bestimmungen beim EuGH (Europäischen Gerichtshof) ist daher bereits anhängig. Im Burgenland und in Oberösterreich finden sich auch Deckelungen der den in einem Haushalt lebenden Personen insgesamt gebührenden Leistungen. Diese sind jedoch differenzierter ausgestaltet als in Niederösterreich, weil die Begrenzungen etwa nicht gelten, wenn die betreffende Person arbeitsunfähig ist, wegen der Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen der Einsatz ihrer Arbeitskraft nicht zumutbar ist oder wenn sie ohnedies arbeitet, aber daraus ein zu geringes Einkommen erzielt. Die Chancen, dass diese Regelungen vom VfGH akzeptiert würden, sind ungleich besser, da der — auch in Niederösterreich so betonte — Arbeitsanreiz deutlicher hervortritt und zudem bei objektiv größerem Bedarf auch eine entsprechend höhere Leistung gebührt. Nicht vorgesehen, aber verfassungsrechtlich wohl geboten wäre die Überschreitung einer Deckelung daher etwa auch, wenn der angemessene Wohnbedarf mit den derart begrenzten Leistungen nicht gedeckt werden könnte.

Die hohen Wohnkosten waren ein wesentlicher Faktor für die jüngsten Novellierungen der Mindestsicherung in Tirol und Vorarlberg. Diese waren gewiss auch durch die Flüchtlingsdebatten beeinflusst, die Kürzungen sind aber viel geringer ausgefallen als in drei vorher genannten Ländern. Das ist insofern bemerkenswert, als im Westen Österreichs — entgegen der öffentlichen Wahrnehmung, die immer auf Wien gerichtet wurde — vergleichsweise die höchsten Leistungen bezahlt wurden. Möglicherweise ist es dem VfGH deswegen auch leichtergefallen, die Änderungen in Vorarlberg jüngst als sachlich zu qualifizieren.

Es ist wohl übertrieben, hier von einem „Vorarlberger Modell" zu sprechen, da sich ähnliche Ansätze auch — und zum Teil schon lang — in anderen Ländern finden. Dennoch verdienen zwei Maßnahmen besondere Beachtung. Zum einen die wesentlich erweiterte Möglichkeit des Einsatzes von Sachleistungen, vor allem zur Deckung des Wohn- oder Energiebedarfs. Damit kann unerwünschten Geldflüssen ins Ausland (von vielen als Pullfaktor für Migration gesehen) entgegengewirkt werden. Zum anderen wird der volle Leistungsanspruch von nachhaltigen Integrationsbemühungen (wie dem Besuch von Sprachkursen) abhängig gemacht. Wer diese nicht nachweist, muss ebenso mit Kürzungen rechnen wie jemand, der trotz Arbeitsfähigkeit seine Arbeitskraft nicht einsetzt.

An der sachlichen Rechtfertigung der dann eintretenden Differenzierungen kann kein Zweifel bestehen. Diese Maßnahmen sind indes nicht so gut „verkaufbar" wie Unterscheidungen, die auf die Herkunft einer Person oder darauf gestützt werden, ob und wie viel sie „ins System einbezahlt" hat.

Beide Fragen dürfen jedoch in einem System, das der Deckung eines akuten Bedarfes dient (wie übrigens auch das Pflegegeld, die Hilfen für Menschen mit Behinderungen oder die Familienbeihilfe), keine Rolle spielen. Die Politik wäre daher gut beraten, weniger auf kurzfristige Opportunitäten zu schielen oder Neiddebatten anzuheizen („Arbeitende dürfen nicht die Blöden sein"), als sich um sachliche Lösungen zu bemühen, die nicht nur rechtlich haltbar sind, sondern auch den Grundwerten entsprechen, auf denen unsere Gesellschaft beruht.

Von Walter J. Pfeil (Professor für Arbeitsrecht und Sozialrecht an der Universität Salzburg)

Erstmals abgedruckt als Gastkommentar in den Salzburger Nachrichten am 19. März 2018

Veröffentlicht am 26. März 2018


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