Richtungsweisendes Urteil des Bundesverfassungsgerichtshof Karlsruhe zu Hartz IV

Ein spannendes Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, Deutschland, wurde erst kürzlich beschlossen. Es handelt von der Zulässigkeit von Sanktionen im Bereich Sozialhilfe und zeigt wie Existenzminimum und Würde des Menschen Eingang in die Rechtsprechung finden können.

Anfang November hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die deutsche Sozialhilferegelung – bekannt als Hartz IV – verfassungsrechtlich beurteilt. Konkret ging es um die Zulässigkeit von Sanktionen und deren Vereinbarkeit sowohl mit der Würde des Menschen, als auch mit der Verpflichtung des Staates, existenzsichernde Maßnahmen zu setzen, auch wenn Personen „unwürdiges“ Verhalten an den Tag gelegt haben (1 BvL 7/16, 5. November. Siehe: https://www.bundesverfassungsgericht.de ).

Existenzminimum und die Würde des Menschen

Demnach ist der Gestaltungsspielraum des Staates mit der – in Deutschland in Artikel 1 Grundgesetz gewährleisteten Würde des Menschen - „Verpflichtung, jedem Menschen ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern,“ begrenzt (Rz 125). Laut ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs muss als menschenwürdiges Existenzminimum die physische und soziokulturelle Existenz als Einheit gewährleistet werden (Rz 117). Das Bundesverfassungsgericht hält auch fest, dass „Menschen nicht auf das schiere physische Überleben reduziert werden dürfen, sondern mit der Würde mehr als die bloße Existenz und damit auch die soziale Teilhabe als Mitglied der Gesellschaft gewährleistet“ werden muss (Rz 119). Einer Spaltung in einen physischen „Kernbereich“ und einen sozialen „Randbereich“ der Existenzsicherung erteilt das Bundesverfassungsgericht eine klare Absage.

Das Sozialstaatsgebot - in Artikel 20 Grundgesetz gewährleistet – erfordert, dieses Existenzminimum tatsächlich zu sichern, dazu muss es konkretisiert und wichtiger Weise auch aktualisiert werden, um „dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen im Hinblick auf konkrete Bedarfe des Betroffenen“ zu entsprechen (Rz 118). Artikel 20 Grundgesetz lautet in Absatz 1 „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“

„Bei der Ausgestaltung von Sanktionen sind weitere Grundrechte zu beachten,“ so das Bundesverfassungsgericht (Rz 117). Beachtlich ist, dass das Bundesverfassungsgericht auch auf internationale Studien zur Evidenzbasis von Sanktionen verweist (Rz 62, 66); und auch den historischen Kontext von Sanktionen thematisiert (Rz 4).

Österreichische Perspektive

In Österreich wird für die Diskussion des absoluten Minimums der Existenzsicherung vielfach die unmenschliche und erniedrigende Behandlung (Artikel 3 Europäische Menschenrechtskonvention) herangezogen. Zum jetzigen Zeitpunkt orientiert sich also das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mehr in Richtung soziale Partizipation und Würde, wohingegen der Verfassungsgerichtshof in Wien – vorläufig – einen niedrigeren Standard zu wählen scheint.

Marianne Schulze, SozialRechtsNetz

Veröffentlicht am 5.12.2019