Mythos Mindestsicherung

Reality-Check

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Laut aktuell verfügbaren Daten haben im Jahr 2015 284.374 Menschen zumindest einmal eine Leistung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung erhalten. (+10,9% gegenbüber 2014)

Menschen stürzen ab. Es sind Leute wie Du und ich. Junge und Alte, Mütter und Väter, Familien - mehr als ein Viertel aller sind Kinder. Weitere 30% sind Beschäftigte mit niedrigem Einkommen oder Personen die ihre Arbeitskraft nicht einsetzen können, z.B.: pflegende Angehörige oder Mütter mit Kleinkindern.
Frauen waren in allen Bundesländern in stärkerem Ausmaß auf Unterstützung angewiesen als Männer. Insgesamt lag der Anteil der Frauen an den BMS-Bezieherinnen und -Beziehern bei 38% (108.226 Personen), während auf die Männer 35% (98.980) und auf die Kinder 27% (77.168) entfielen. Von Frauen als Betroffenengruppe abgesehen, bildeten Alleinstehende die größte Unterstütztengruppe (37% der Haushalte), gefolgt von Paaren mit Kindern (30%) und Alleinerziehenden (20%).

Die BezieherInnenzahlen steigen nicht erst seit Einführung der Mindestsicherung, bereits in der alten Sozialhilfe seit Mitte der 2000er Jahre haben sich die Betroffenenzahlen stark erhöht. Gründe dafür sind prekäre Jobs, Erwerbslosigkeit und nicht-existenzsichernde AMS-Leistungen, psychische Erkrankungen und hohe Lebenshaltungskosten beim Wohnen.

Mythos: "Mindestsicherung ist eine Sozialleistung für die Menschen am Rande der Gesellschaft"

Es stimmt: die Bedarfsorientierte Mindestsicherung ist z.B. auch für obdachlose Menschen da. Auch, aber nicht nur: die Zahl der Menschen, die zur Sicherung ihrer Existenz auf Bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS) zurückgreifen müssen, ist seit der Jahrtausendwende und angeheizt durch die Finanz- und Wirtschaftskrise massiv gestiegen. 2015 haben 284.374 Personen zumindest 1x eine BMS-Leistung erhalten – mehr als ein Viertel davon waren minderjährige Kinder und Jugendliche. Doch die allerwenigsten Bezieher/innen leben ausschließlich von BMS. Die große Mehrheit braucht sie, um nicht existenzsichernde Leistungen der Arbeitslosenversicherung aufzustocken. Bei den BMS-Bezieher/innen ist auch an Frauen zu denken, die im Zuge einer Scheidung auf Unterhalt verzichtet und deshalb auch keinen Anspruch auf Witwenpension haben. Oder an Menschen mit erheblicher Behinderung, die in Privathaushalten leben. Oder an Gering-Verdienende mit mehrköpfiger Familie, für die in Summe der Lohn nicht reicht. Oder an pflegende Angehörige, die von der Pflege so in Anspruch genommen sind, dass sie daneben nicht erwerbstätig sein können. Eines ist aber auch gewiss: trotz der steigenden Bezieher/innen-Zahlen sind jene, die BMS trotz Notlage nicht in Anspruch nehmen, in der Überzahl.

Die Daten zeigen, dass die Mindestsicherung für die große Mehrheit eine kurzfristige Überbrückungshilfe darstellt. Die durchschnittliche Bezugsdauer beträgt zwischen 6 und 9 Monaten, bei 22% der unterstützten Haushalte ist sie kürzer als 4 Monate. Dabei ist zu bedenken, dass zum BMS-BezieherInnen-Kreis auch Personen gehören, die kaum Chancen für einen Ausstieg aus der BMS haben, wie z.B. Personen im Pensionsalter oder Menschen mit erheblicher Beeinträchtigung.

Mythos: "Die Mindestsicherung ermöglicht den Menschen ein bequemes Leben"

Die durchschnittliche Höhe der monatlichen BMS-Leistung je Haushalt liegt weit unter den maximal möglichen Leistungssätzen: Sie betrug im Oktober 2014 604 €. Bei Haushalten von Paaren mit 4 oder mehr Kindern lag die durchschnittliche Leistungshöhe bei 1.106 €. Das hat damit zu tun, dass der Großteil der BMS-beziehenden Haushalte diese nur aufstockend zu sonstigen Einkommen wie Erwerbseinkommen, AMS-Leistungen oder Kinderbetreuungsgeld erhält.

Nach Abzug der Fixkosten fürs Wohnen bleiben rund einem Drittel der Menschen, die sich hilfesuchend an die Caritas-Sozialberatung wenden, weniger als 4 Euro pro Tag und Person im Haushalt übrig, um alle anderen Bedürfnisse abzudecken.

Ein Leben am Limit verursacht außerdem Stress. Dutzende Studien weisen den Zusammenhang von ökonomischer Belastung und schlechten Stress nach.

Für eine alleinstehende Person beträgt die BMS-Leistung (2016) für den Lebensbedarf 628 €. Für das Wohnen gibt es 209 €. In einigen Bundesländern kommen noch zusätzliche Leistungen für das Wohnen hinzu, in anderen nicht. Wohnt jemand im Eigenheim, steht (mit Ausnahme Wiens) nur die halbe Leistung für das Wohnen zu. Geld gibt es in diesem Fall nur für die Betriebskosten, nicht aber z.B. für Raten für Wohnraumschaffungs-Kredite. Dieses Geld gibt es auch nicht automatisch auf die Hand: es ist die maximal mögliche Summe. Existieren andere Einkommen im Haushalt, werden sie bis zu diesem Betrag aufgestockt. Deshalb betrug z.B. in OÖ die durchschnittliche BMS-Leistung an Alleinstehende im Oktober 2014 auch nicht 828 €, sondern 432 €. BMS-Bezieher/innen sind auch schlechter gestellt als so genannte „Mindestpensionisten/innen“: diese erhalten 14x-jährlich eine Ausgleichszulage, BMS-Bezieher/innen in der Regel nur 12x (mit Ausnahmen für einzelne Gruppen wie z.B. Kinder in einigen, aber nicht allen Bundesländern).

Die Höhe der BMS hat keine Rückbindung an die tatsächlichen Lebenshaltungskosten. Beim Thema Wohnen wird das am offensichtlichsten. BMS ist Leben am Limit. Ein Leben am Limit aber verursacht krankmachenden Stress.

Bequem ist das Leben mit BMS aber auch aus anderen Gründen nicht: Als Eigenheim-Besitzer/in muss man Haus oder Wohnung zwar nicht verkaufen. Aber nach 6 Monaten BMS-Bezug dulden, dass die BMS-Behörde eine grundbücherliche Sicherstellung vornimmt und damit ein Pfandrecht erhält. Dieses Pfandrecht verjährt nicht und geht auch auf die Erben über. Wer im Erwerbsalter und erwerbsfähig ist, muss dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, für Kinderbetreuung und Pflege gibt es nur eingeschränkt Ausnahmen. Und auch Unterhaltsklagen gegen greise Eltern oder umgekehrt erwachsene Kinder dürfen verlangt werden. Dann prüft das Gericht, ob die Selbsterhaltungsfähigkeit verloren gegangen ist (was sehr selten der Fall ist) und ob deshalb Unterhaltsverpflichtungen bestehen.

Mythos: "Gibt eh nur Missbrauch in der Mindestsicherung"

Die BMS-Behörden haben sich einiges einfallen lassen, um Missbrauch zu verhindern. BMS-Bezieher/innen sind für die Behörden in vielen Aspekten gläserne Menschen. Nicht bloß, dass Antragsteller/innen ihre Lebensverhältnisse völlig offen legen müssen. Die Behörde weiß durch umfangreiche Amtshilfeverpflichtungen auch ohne Information durch die Hilfesuchenden, ob z.B. eine Beschäftigung oder eine AMS-Sperre vorliegt, ob ein KFZ auf ihren Namen läuft, oder wer sonst noch an ihrer Wohnadresse gemeldet ist. Ein Blick in den Computer genügt.

Auch während des laufenden Bezugs sind jederzeit Kontrollen möglich, z.B. mittels unangemeldeter Hausbesuche. Sollte sich herausstellen, dass Leistungen zu Unrecht bezogen wurden, sind sie zurück zu zahlen. Verwaltungsstrafen bis zu 4.000 € und auch Ersatzfreiheitsstrafen sind möglich. Anzeigen wegen des „Erschleichens“ von Leistungen mit bewusst falschen Angaben sind aber sehr selten. So wurden beispielsweise im Jahr 2013 in NÖ 330 Haushalte mittels Hausbesuch überprüft; in nur 2 Fällen lag ein widerrechtlicher Bezug vor. Hinter einem unrechtmäßigen Leistungsbezug muss außerdem nicht notwendigerweise eine betrügerische Absicht stehen. Es kann sich auch schlicht um Missverständnisse und Versehen handeln – auch auf Seiten des Amtes. Das Gros der „Übergenüsse“ entsteht daraus, dass Veränderungen der Lebenssituation dem Amt verspätet gemeldet werden. Auch sie sind zurück zu zahlen.

Und was nicht vergessen werden darf: Eine große Zahl von Bezugsberechtigten nimmt keine Leistungen in Anspruch. Diese „Non-Take-Up“ Quote ist am Land noch wesentlich höher als in den Städten. Die Zahl der Einkommensarmen in Österreich, die trotz Anspruch keine Mindestsicherung erhalten, ist enorm. Die großen Probleme in der Mindestsicherung lauten also nicht soziale Hängematte sondern Nichtinanspruchnahme und Sozialbürokratie.

Mythos: "Wien ist so locker, deshalb gibt's da so viele"

Die wahren Gründe: Weil eine große Zahl Einkommensarmer vom Land in die anonymere Stadt zieht, weil die Inanspruchnahme von bedarfsgeprüften Sozialleistungen in Großstädten in ganz Europa um ein vielfaches höher ist, weil der Anteil der BesitzerInnen eines Eigenheims unter den Einkommensarmen in Städten deutlich niedriger ist als am Land und weil manche Bundesländer einen besonders schikanösen und bürgerunfreundlichen Vollzug aufweisen.

Dass in den Städten die Inanspruchnahme höher ist, ist also nicht überraschend. Das zeigt sich auch in kleineren Städten wie z.B. Krems (NÖ):

Kommen im Bezirk Krems Land auf etwa 56.000 EinwohnerInnen 242 BezieherInnen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung (BMS), sind es bei den 24.000 EinwohnerInnen von Krems Stadt 618. Pro EinwohnerIn beziehen also in der Stadt Krems sieben Mal mehr Menschen Mindestsicherung als im Bezirk Krems Land.

Mindestsicherung wird in Städten österreichweit grundsätzlich häufiger in Anspruch genommen als in ländlichen Regionen. Es ist uns gelungen, für 5 Landeshauptstädte aktuelle, aus den Sozial-Ressorts der Länder stammende Daten zu recherchieren. Der Anteil, den BMS-BezieherInnen der jeweiligen Landeshauptstadt an allen BMS-BezieherInnen des jeweiligen Bundeslandes ausmachen, liegt um das 2,1-fache (Linz) bis 2,5-fache (St. Pölten, Innsbruck) über dem Anteil der in der jeweiligen Landeshauptstadt wohnenden Bevölkerung. So leben beispielsweise in St. Pölten nur 3,2% der niederösterreichischen Bevölkerung, aber 7,9% der niederösterreichischen Mindestsicherungs-BezieherInnen. Je mehr Menschen des jeweiligen Bundeslandes in der Landeshauptstadt leben, desto höher ist folglich auch der Anteil an den EmpfängerInnen Bedarfsorientierter Mindestsicherung: Salzburg ist das Bundesland mit dem größten, in der Landeshauptstadt lebenden Bevölkerungsanteil (27,5%), und gleichzeitig jenes mit dem höchsten, in der Landeshauptstadt lebenden Anteil von BMS-BezieherInnen (60,1%).

Mythos: "Schön und gut - aber das kostet ja alles Unsummen. Wie sollen wir uns das leisten?"

Mit der Zahl der Bezieher/innen sind auch die Kosten der Bedarfsorientierten Mindestsicherung gestiegen. Für Geldleistungen und Krankenhilfe haben die Länder 2014 in Summe 708 Mio. € ausgegeben (brutto; ohne Berücksichtigung von Rückflüssen durch Kostenersätze und Rückforderungen). Das mag auf den ersten Blick viel erscheinen – relativiert sich aber angesichts der Summe der Sozialausgaben in Österreich. Diese machten 2014 102.113 Mio. € aus. 44% davon entfielen auf Leistungen für „Alter“ (Pensionen etc.). Gemessen an den Gesamt-Sozialausgaben entsprachen die Ausgaben für die BMS einem Anteil von 0,7%. Das wird den Sozialstaat nicht zusammenbrechen lassen.

Mythos: "Wer wirklich will, findet auch eine Arbeit!"

Beschäftigung und Erwerbslosigkeit finden sich parallel auf einem Rekord-Hoch. Noch nie waren so viele Menschen in Österreich in Beschäftigung wie 2014, nämlich 2,18 Mio. Männer und 1,94 Mio. Frauen. Seit 2004 hat die Zahl der selbständig oder unselbständig Erwerbstätigen fast jährlich zugenommen. Aber: die Zahl der gearbeiteten Stunden ist im selben Zeitraum fast gleich geblieben (+0,6%). Wie das geht? Die Erwerbstätigen arbeiten pro Woche weniger als früher; und die neu geschaffenen Jobs waren in starkem Maße Teilzeit-Jobs.

Gleichzeitig gab es im Jahr 2014 im Jahresdurchschnitt 319.357 Personen, die zumindest einen Tag lang beim Arbeitsmarkt-Service als arbeitssuchend gemeldet waren. Weitere 75.317 waren in Schulung. Diese Daten entsprechen dem Durchschnitt, der sich aus monatlichen Stichtags-Abfragen ergibt. Die Erfahrung der Erwerbslosigkeit haben mit 922.387 Personen wesentlich mehr Menschen gemacht. Den in Summe im Jahresdurchschnitt 394.674 erwerbslos gemeldeten bzw. in Schulung befindlichen Menschen standen 26.320 beim AMS gemeldete, offene Stellen gegenüber. Das bedeutet: auf jede gemeldete freie Stelle kamen rein rechnerisch 15 Bewerber/innen. Am niedrigsten war die so genannte Stellenandrangsziffer bei den Personen mit Lehrabschluss (8,4), sehr hoch bei den Personen mit maximal Pflichtschulausbildung (24,2), am höchsten bei der mittleren Ausbildung (27).

Mythos: "Die Mindestsicherung macht die Sozialhilfe armutsfest!"

Es hat sich nicht viel geändert, manches auch zum Schlechten, der Vollzug ist in manchen Bereichen miserabel wie zuvor. Die Mindestsicherung ersetzt nicht die Sozialhilfe, sondern baut sich in das bestehende System der neun Bundesländerregelungen ein.

Im Vertrag zwischen dem Bund und den Ländern steht ein ausdrückliches Verschlechterungsverbot, also ein Verbot, dass die neue Mindestsicherung schlechtere Regelung beinhaltet als die alte Sozialhilfe.

Verschlechterungen gibt es in mehreren Bereichen: Die Mindestsicherung ist im System des österreichischen Sozialstaats das letzte Netz. Dieses letzte Netz kann zu 100% abgerissen werden. Sanktionen sehen beim Lebensbedarf eine Totalkürzung um 100% vor. Das war in Wien, Vorarlberg, Steiermark und Kärnten in der alten Sozialhilfe nicht möglich.

Auch beim Wohnen kann es zu Verschlechterungen kommen, gerade in Städten, wo die Wohnkosten in die Höhe geschnellt sind. Die vorgesehene Summe fürs Wohnen beträgt 200 Euro. Damit geht sich keine Miete aus. Alles hängt also davon ab wie die einzelnen Bundesländer ihre Wohnhilfe gestaltet haben.

Verschlechterungen gibt es auch bei der Familienbeihilfe für Menschen mit Behinderungen. Das trifft ausschließlich Personen, bei denen es sich jetzt schon hinten und vorne nicht ausgeht: Menschen mit schweren Beeinträchtigungen, die deshalb vielfach kein Erwerbseinkommen erzielen können. Personen die chronisch krank sind und deren Gesundheitszustand sich in der Regel nicht verbessert, sondern maximal stabil gehalten werden kann. Menschen, deren Situation – ohne die entsprechende Unterstützung in gesundheitlichen Belangen – sich rasch weiter verschlechtert. In Oberösterreich wird diese Leistung auf die Mindestsicherung bisher angerechnet und so massiv gekürzt.

Mythos: "Die Mindestsicherung passt nicht in eine moderne Arbeitswelt"

Lückenlose Erwerbsbiographien samt lebenslangen 40- Stunden-Anstellungen dürften zukünftig die Ausnahme, nicht die Regel darstellen. Auf diese Herausforderungen muss sich auch das Sozialsystem einstellen. Ein leistungsfähiges unteres soziales Netz ist eine notwendige Antwort gegen Armut in einer sich verändernden Arbeitswelt, die nicht mehr dem Arbeitnehmer-Bild der 1960er Jahre entspricht.